Meine kleine Anthologie tschechischer Musik
Bedřich Smetana

Heiko Schröder


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Smetanas Geburtsort ist das schöne Städtchen Litomyšl am östlichen Rand Böhmens.

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Mit Bedřich Smetana (der Name bedeutet »Kaffeesahne«) beginnt nicht nur in der tschechischen Musik, sondern im gesamten kulturellen Leben der Tschechen eine neue Epoche. So reichhaltig wie Smetanas Tonsprache sind auch die Attribute, die sich mit seinem Namen verbinden: »Schöpfer der tschechischen Nationalmusik«, »Volkskomponist«, »Erzvater der tschechischen Musik« ...- bis jetzt ist mir noch keins aufgefallen, das die künstlerische Erscheinung passend beschreiben kann. Am weitesten ging wohl einst der Dirigent Rafael Kubelik als er in einem Interview bemerkte: »Sich zu Smetana zu bekennen, heißt Tscheche zu sein.« Hui, weht uns da doch eine »steife« nationale Brise ins Gesicht, fliegt so mancher deutschen Seele »der Hut vom Kopfe«; und leider, leider heißt es auch in den meisten Fällen: »Ich wendete mich nicht.« Wer es versteht, den Nationalbaum der Tschechen zu besingen, ist gut beraten, »es« nicht gleich »in alle Rinden einzuschnitzen«, nur weil sich das Holz wie Butter schneiden lässt. Ein kurzer Blick in die Tiefen der Krone genügt, um die vielen kleinen gelben Früchte zu entdecken, die uns umschneien werden, falls wir die wenige Geduld aufbringen bis zu Erntezeit zu warten. Dann aber leuchten uns die Goldknöpfchen einen Weg in die tschechische Kultur: Wir werden Zdeněk und Jan Svěráks schönen Film »Kolya« mit ganz anderen Augen sehen, Božena Němcová, Jan Neruda und im besten Falle auch Karel Hynek Mácha werden für uns ebenso wichtig sein wie Kafka, Kafka und Kafka und vor allem werden wir wohl einsehen: Rafael Kubelik hat abermals genau den richtigen Ton getroffen.

Das goldene Tor:
Wenn Du Dich, lieber Leser, von dem nationalen Geblähe lösen kannst, das mitunter Smetanas Namen oberflächlich bepustet, wird Dir der Meister ein goldenes Tor öffnen, dass Dich auch dann - oder gerade dann - wenn Du (noch) nicht die Landessprache beherrschst, zum tschechischen Menschen führt. Voraussetzung ist allerdings, dass Du bereit bist, den »verwachsenen Pfad« zu verlassen, der am Tor vorbei über die Moldau zur Verkauften Braut und nach einem Abstecher über das Streichquartett »Aus meinem Leben« wieder über die Verkaufte Braut zurück zur Moldau führt. Wir sehen ja auch nichts von der »Goldenen Stadt«, wenn wir auf dem Prager Königsweg den ganzen Tag wie ein Weberschiffchen hin und her laufen.

Oberflächliche Charakterisierung seiner Musik:
Jungen Ohren erschließt sich dieser Meister sehr schnell. Einerseits durch eine ungemein »abfetzende« Rhythmik, andererseits durch eine Reichhaltigkeit an Melodien, die ihresgleichen sucht. Die Frage, warum das Ganze nicht in lauter bunte Einzelmomente zerfällt führt schon in des Meisters Schaffensgeheimnisse: Was Smetana aus einem einzigen Einfall, aus einem einzigen Motiv, und sei es nur eine Tonleiter, herausholt, verdient höchste Bewunderung, und ist im ersten Akt der Oper Dalibor kaum zu fassen! Dies verleiht seinen Werken eine geheimnisvolle Geschlossenheit, die der vor musikalischen Einfällen nur so sprühende Antonín Dvořák auf der Opernbühne leider nie erreicht hat. Jedes erneute Hören fördert mehr zu Tage: den meisterhaften Beherrscher des Kontrapunkts (Verkaufte Braut und Das Geheimnis), den einst in jungen Jahren ein Rüffel von Robert Schumann besonders anstachelte (Robert Schumann: »Studieren Sie Bach!«, Smetana: »Das hab' ich schon.«, Schumann: »Dann studieren Sie ihn nochmal.«), den »frechen« Modulierer, der gerne seinem glänzenden Humor die Zügel schießen lässt, durch die Tonarten saust, den Hörer schließlich aus einem tonalen Schwebezustand herabplumpsen lässt, um ihn dann doch aufzufangen (Zwei Witwen). Und doch ist es vor allem die Wirkung der »schmerzlich schönen« Terzen- und Sextenschleifer, die so unverwechselbar »smetanaisch« klingen und für Viele zum Inbegriff des Tschechischen geworden sind. Auffallend ist an allen Werken aber eine besondere Charaktereigenschaft des Komponisten, dem jede Exaltiertheit zuwider war: Wenn es irgendetwas gab, was er wie die Pest hasste, so ist dies ein Missbrauch der Musik auf Kosten des »wahren Ausdrucks« (ein Begriff, der auch bei seinem russischen Kollegen Modest Mussorgsky auftaucht), ein Sich-Prozieren des Künstlers, sei es auf der Opernbühne oder im Konzertsaal. Rampensängerei kommt in seinen Opern fast nicht vor, aus seiner Feder stammt kein einziges Instrumentalkonzert, und die Klaviermusik ist ein eigener Kosmos, der zwar einerseits einen sehr guten Pianisten voraussetzt, aber andererseits für einen intimen Hörerkreis geschrieben ist.

Ersteinstieg:
Am Besten ist es sicherlich, mit einer Oper zu beginnen, und alle einschlägigen Schwüre nach einem entsprechenden Erlebnis, nie wieder ein solches Haus zu betreten, weit hinter sich zu lassen, oder doch wenigstens zum Gelöbnis abzuschwächen.

Die geniale Prodaná nevěsta (Die Verkaufte Braut) ist die wahre Tschechische Nationaloper, die jeder einmal erlebt haben sollte. Dass ich sie ausdrücklich nicht als ersten Einstieg empfehle, hat absolut nichts mit der Wertschätzung des Werkes zu tun, sondern damit, dass ihre beiden Schwestern Hubička und Tajemství musikalisch noch tiefer loten, kürzer sind, deutlich schneller zum Verstädnis von Kubeliks Satz führen, und zu dem gehören, was Smetana selbst als seinen »wahren Stil« bezeichnet, den Du, lieber Leser, ganz für Dich selbst entdecken solltest. Der frühlingshaft rauschende »Kuss« gehört wohl zum Hinreißendsten was ein Mensch geschaffen hat. Gustav Mahler, der ein sehr großer Verehrer Smetanas war, erklärte den »Kuss« zu seiner Lieblingsoper. Tajemství ist weniger rauschend, eher herbstlich leuchtend, von einem leisen melancholischen Schleier überzogen. Ein Werk von entwaffnender Schönheit, in dem sich der »wahre Smetanastil« vervollkommnet. Hast Du das Glück, eines der Werke auf der Bühne zu sehen (unbedingt auf Tschechisch, selbst dann, wenn Du es nicht beherrschst!), lies Dir - entgegen jeglicher sonstigen Gewohnheit - nicht voher die einfache Geschichte durch, sondern konzentriere Dich ganz auf die Personen und die musikalischen Mittel, mit denen sie Smetana auf der Bühne leben lässt. Ist die Bühne überhaupt notwendig? Beide Werke sind auch auf CD erhältlich und kosten wenig mehr als ein Taschenbuch: für Hubička empfehle ich die Aufnahme des Brünner Nationaltheaters unter der Leitung von František Vajnar, für Tajemství die Aufnahme des Nationaltheaters Prag unter der Leitung von Zdeněk Košler.

Hubička und Tajemství I: Allgemein
Mit Hubička und Tajemství entwickelt Smetana eine ureigene Form der durchkomponierten Oper, in der Wagners »unendliche Melodie« und die ebenso endlose Deklamation durch den echten Gesang des tschechischen Menschen ersetzt ist. Oft ist die Auffassung zu hören, dass sich das gesprochene Tschechisch wie Musik anhöre, dass Tschechen beim Sprechen singen. Hier kann es jeder unmittelbar erleben. Die Grenze zwischen Arien, Liedern und Rezitativen ist kaum auszumachen und dennoch lassen sich »bei Bedarf« ganze Teile als Nummern aus dem filigranen Gefüge herauslösen. Beide Partituren enthalten ein Feuerwerk an Musik, die als Ganzes so einprägsam ist, dass es nicht lange dauern dürfte, bis der Hörer beide Werke »auswendig kann« .

Hubička und Tajemství II: Tanz und Dorf
Wer erwartet, dass sich hier Gesang und Tanz »geschwisterlich die Hand reichen«, wie es in der Verkauften Braut der Fall ist (wo die Tänze aber ursprünglich gar nicht vorhanden waren, sondern für eine Aufführung in Paris nachkomponiert wurden), sollte nicht enttäuscht sein: In beiden Werken reichen sie sich nicht die Hand, sondern sind untrennbar mit einander verschmolzen. Separate Tänze gibt es nicht, und schon gar nicht etwas, was sich mit dem klischeebeladenen Mäntelchen einer »Polkaseligkeit« überdecken ließe. Smetanas Veredelung der Polka erreicht hier ihren Höhepunkt. Sie ist hier nicht mehr bloßer Tanz, sondern wird als Charakterzeichnung eingesetzt. Smetanas Bühnenfiguren verstehen es, im Polkarhythmus zu weinen, lachen und zu schimpfen. Die exponierteste Leistung ist sicherlich der Mittelteil des ersten Aktes von Hubička. Wer Hubička lediglich als harmlose Dorfgeschichte aus dem Riesengebirge begreift, versucht immer noch tschechisches Bier ohne Hopfen und Malz zu brauen. Es ist keine Verklärung und Idealisierung böhmischen Dorflebens. Smetana setzt vielmehr dem tschechischen Menschen und der tschechischen Sprache (die lediglich in den berühmten »Böhmischen Dörfern«, nicht aber in der Stadt überlebt hat) ein Denkmal, was ihn als Seelenverwandten der großen Dichterin Božena Němcová auszeichnet (Babička).

Hubička und Tajemství III: Frauengestaltung
Zu ihr gibt es aber noch eine andere Verbindung: Smetana unterstützte Frauen, wo er konnte, war einer ihrer größten Charakterzeichner auf der Bühne (Modest Mussorgsky trotz seiner saftigen Chiwria in dem »Jahrmarkt« wohl eher weniger) und insofern »Feminist« im besten Sinne des Wortes, wie auch sein russischer Kollege Alexander Borodin. Doch Smetanas zweite Ehe, die er mit Bettina Ferdinandi, nach dem tragischen Tod seiner lieben Kateřina Kolárová einging, verlief alles Andere als glücklich. Die Hoffnung auf spätes Glück ist in beiden Opern eine kleine inhaltliche Beigabe, ein Smetana-privatissime, dessen Verständnis der Meister von seinem Publikum aber nicht einfordert.

Hubička und Tajemství IV: Parallelen zu Mácha?
Interessant ist übrigens auch die zeitliche Folge der Tageszeiten. Beide Werke beginnen abends und enden am Morgen. Der Mittag ist ausgelassen. Sollte es ein Zufall sein? Tschechiens großer romatischer Dichter Karel Hynek Mácha führt in seiner kurzen Novelle »Ein Abend auf dem Bezděz« (Tajemství spielt in der Umgebung dieses Berges!) einen recht originellen Gedanken an: Wolle man die Lebensabschnitte des Menschen mit den Tageszeiten vergleichen, so sei es doch nicht zu verstehen, wieso der Morgen der Jugend zukomme. Ihr sei vielmehr der Abend zuzuordnen, der heranwachsende Mensch greife in der Nacht nach den Sternen und trete als Erwachsener in den Morgen. Ich glaube nicht an eine zufällige Parallele. Die Nachtbilder beider Opern sind bei den Tschechen besonders beliebt; welcher junge Mensch wolle in einer Prager Nacht nicht nach den Sternen greifen?

Hubička und Tajemství V: Natur
Weder Hubička noch Tajemství sind allerdings als rein anthropozentrische Werke zu verstehen. Vor allem die liebevoll menschliche Schwächen karikierende Hubička geht deutlich darüber hinaus: Das mitreißende Lärchenlied der Barče scheint Smetanas Abneigung gegen Rampensängerei Lügen zu strafen. Nein, einmal ließ er sie zu. Das Lärchenlied, das wohl zu den schwierigsten Herausforderungen der (tschechischen) Opernliteratur gehört, und auch noch von einer Nebenfigur gemeistert werden muss, kann es nicht deutlicher zeigen: Hubička ist keine »simple Dorfgeschichte«, sondern als Ganzes der Hymnus einer jubelnden Seele an die Natur, der tiefste Ausdruck von Freude über das menschliche Dasein.

Hubička und Tajemství VI: Richard Wagner und Modest Mussorgsky
Trotz einer Tonsprache, die einige der besten Erfindungen Wagners verwertet (»Ein guter Komponist klaut etwas Gutes.« (Leonard Bernstein)) wäre es grundverkehrt, beide Werke mit Wagnerschen Dramen vergleichen zu wollen. Smetana Bewunderung für Wagner hatte seine Grenzen. Das Mütterchen im Dorfe mit dem Klang seiner Sprache hatte für ihn mehr Bühnenpotenzial als jede einer mythologischen Kiste entstiegene Walküre, die sich Gnitaheides Staub aus den Kleidern klopft. Der Mensch allein ist schon Drama genug. Sein russischer Kollege Modest Mussorgsky scheint ihm in diesem Punkt seelenverwandt zu sein, aber mit den Gemeinsamkeiten hatte es schnell ein Ende: Für Mussorgsky, der sich keiner »Lehre« fügen wollte, nie eine Ausbildung über sich ergehen ließ, erschien Smetana, wenigstens anfänglich, als Konservatoriums-Zögling, »der die tschechische Musik verhunze« und seinen sauren Rahm (im Russischen die Bedeutung des auf der zweiten Silbe betonten Wortes »smetana«) über die Landsleute ergoss. Dem großen Mozart-Verehrer Smetana wiederum erschien die russische Musik (leider auch Michail Glinka) ungehobelt und entsprach nicht seiner Auffassung von einem musikalischen Kunstwerk. Um wie viel näher als Mussorgsky ihm eines Tages Nikolai Rimsky-Korsakov stehen sollte, der zu dieser Zeit gerade eine Wandlung durchmachte, hat Smetana nicht mehr erlebt.

Hubička und Tajemství VII: Oper als musikalisches Kunstwerk
Rimsky wie Smetana wandten sich gegen Wagners »endlose Rede ohne Punkt und Komma«, und vor allem dagegen, die Musik einem Text unterzuordnen. Wagners Texte, so erkannte Rimsky früh, sind nicht für die Musik eingerichtet, sondern eher umgekehrt. So dachte der Tondichter Smetana auch nie daran, ein Libretto selbst zu verfassen. Eliška Krásnohorska, der Librettistin von Hubička und Tajemství, wurde des Öfteren ein Mangel an dramatischen Fähigkeiten vorgeworfen. Smetana nahm sie immer in Schutz. Sah er ihre »Schwächen« nicht? Anfänglich wollte Smetana vom »handlungsarmen Kuss« tatsächlich nicht viel wissen, aber Eliška Krásnhohorská konnte ihn sehr schnell überzeugen, als er sah, wie musikabel ihre ersten Verse waren. Schon wenig später erzählt sie, dass ihr Smetana in Prag über die Straße zubrüllte, wie glücklich er sei, dass sie ihm »den Kuss« gegeben habe, was Passanten natürlich auf ihre Weise deuteten. So »olympisch heiter« auch Smetanas Stimmung während der Zeit des »Kusses« gewesen sein mag, die Wahrheit war weniger lustig: Smetana war seit zwei Jahren taub und merkte bei der Begegnung mit Eliška Krásnohorska nicht, wie er schrie. Weder von dem »Kuss«, noch von dem »Geheimnis« hat er je einen Ton gehört. Nach dem ungeheuren Erfolg des »Kusses« ließ er seiner Librettistin für das »Geheimnis« freie Hand, bat lediglich darum, nicht so viele Ensembles zu schreiben, die ihm in seiner Taubheit schwer zu schaffen machten. Das Ergebnis war allerdings das Gegenteil: »Das Geheimnis« wurde Eliška Krásnohorskás bestes Libretto, aber es wimmelt nur so von Ensembles, die den Meister auf den Gipfel seiner Schaffenskraft bringen sollten. Allerdings ist die »olympische Heiterkeit« einem leisen, subtilen, aber nicht weniger sprühenden Humor gewichen, der wie die »kräftigen Farben des Herbstes« (Kurt Honolka) durch einen melancholischen Schleier hindurchleuchtet. Die stille Tajemství halte ich für das Gipfelwerk in Smetanas Bühnenschaffen, nicht nur aus »tschechischer« Sicht.



Heiko Schroeder 2012-09-02