Meine kleine Anthologie tschechischer Musik
Bedřich Smetana Má vlast
Nr.1: Vyšehrad

Heiko Schröder


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Vyšehrad bedeutet »hohe Burg« (zusammengesetzt aus »vysoký« = »hoch« und »hrad« = »Burg«). Diese Burg, oder besser gesagt, das was von ihr übrig geblieben ist, befindet sich auf einem markanten Felsen südlich der Neustadt direkt an der Moldau. Für Tschechen ist dieser Ort ein »Heiligtum«, denn der Sage nach war dies die Residenz der ersten Přemyslidenfürstin Libuše, und hier sah sie in einer Vision das Aufblühen einer herrlichen Stadt an der Schwelle (»praha«) der Moldau. Smetana lässt Má vlast mit einer wahren Ton-Dichtung beginnen, die an die letzten Verse seiner Oper Libuše anknüpft. Aber es handelt sich dabei weder um ein Tongemälde, noch um eine Forsetzung der Opernhandlung mit sinfonischen Mitteln, oder gar um einen musikalischen Nachhilfeunterricht in tschechischer Geschichte. Vielmehr verleiht der Dichter dem Empfinden eines Betrachters oder Besuchers, der mit der geschichtlichen und mythologischen Bedeutung des Vyšehrad vertraut ist, einen tiefen künstlerischen Ausdruck, der unter den besten Schöpfungen dieser Art seinesgleichen sucht (und wohl kaum findet). Natürlich gibt es auch »Bilder«, die wir als Hörer vor unserem geistigen Auge sehen können. Aber diese Bilder rauschen nicht vorbei, wie bei der in diesem Punkt weniger anspruchsvollen »Moldau«, sondern sie durchleuchten den Schleier der Geschichte mit unterschiedlicher Intensität, um dann wieder zu verblassen; wir sollten ihnen nicht nachlaufen oder uns an ihnen festhalten, denn Vysehrad ist kein Denkmal aus Tönen, sondern eine sinfonische Meditation, die den »tschechischen Menschen« wahrhaftig zur »Besinnung« zu bringen vermag; zu einem Nachdenken über sich selbst. Den »tschechischen Menschen« aber definieren weder Staatsgrenzen, noch sind es irgendwelche anderen »Äußerlichkeiten«, die hier den Ton angeben. Sondern es sind Lumirs Harfenklänge, die in die Welt hinausklingen und jedem »Tschechen« heimleuchten, welcher Herkunft und »ethnologischer Zugehörigkeit« auch immer. »Má vlast, mein Vaterland«, sagt Smetana buchstäblich im Titel, und seine bezwingende Tonschöpfung stellt dem Hörer die sympathische Frage: »Deins (vielleicht) auch?«

Entstehung:
Wann Smetana mit den ersten Skizzen zu dieser Tondichtung begann, ist nicht leicht festzustellen. Erste Ideen reichen wohl bis zur Zeit des Dalibor (1868) zurück. Zur Ausführung kam es dann im Herbst 1874. Während der Arbeit ertaubte Smetana vollständig.

Uraufführung:
März 1875 in Prag

Ergänzungen:
Vyšehrad sollte in einem fünfteiligen Zyklus »Vlast« einer Dichtung mit dem Titel Bíla hora folgen, die sich an die letzten Verse in derProphezeihung der Libuše noch enger angeschlossen hätte. Nachdem Smetana die ursprüngliche Planung verwarf, wurde die Dichtung Vyšehrad zum Schlüsselwerk des Zyklusses wie wir ihn heute kennen.

Motiv:
Möglicherweise ist das »Schicksalsmotiv« der 5. Sinfonie Beethovens die (bisher) bekannteste musikalische Keimzelle der Musikgeschichte. G-G-G-Eeees - wie ein Trompetensignal, nicht zum Aufbruch rufend, sondern eher ein Vorsignal der siebten Posaune. Sehr melodiös ist das nicht - und soll es auch nicht sein. Im Gegenteil: Der Schritt zur Vuvuzela-Tröte ist beliebig klein und effizienter kann sich wohl eine akustische Figur selbst demjenigen Geist, der sich für »unmusikalisch« hält, nicht »in die Birne hämmern«. Vielleicht hat Beethoven den Ruf einer Goldammer (große Terz aufwärts) in sein Spiegelbild verkehrt. Hätte er eine kleine Terz (e-g) bemüht, wäre dabei eher ein »Kuckuck mit Sprachfehler« herausgekommen. Aber wie seltsam: Ein solcher Kuckuck (f-f-f-deee) folgt der »gespiegelten Goldammer« tatsächlich, ohne lustig zu wirken; im Gegenteil: der Ruf ist geradezu melancholisch. Welch ein genialer Geist ist hier am Werk, der ein derart »primitives« Material, in dem (zweifellos packender) Rhythmus, Melodie und Josephs II. »gewaltig viele Noten, lieber Mozart« auf ein Minimum reduziert sind, als Keimzelle einer ganzen Sinfonie verwenden kann?

Smetanas Vyšehrad-Motiv ist genau so kurz und nicht weniger einprägsam, wirkt aber wegen seiner größeren melodischen Substanz viel edler, erhabener:

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Bei aller Verwandschaft zu Beethovens Erfindung ist es geradezu dessen Gegenstück. Zuerst strahlt das Motiv in Es-Dur (was hier zwar zu glauben, aber nicht zu sehen ist, da in der Abbildung ja die Harmonien fehlen), spätestens seit Beethovens »Eroica« eine sehr beliebte Tonart für glänzende Wirkungen. Doch der Glanz ist seltsam gedämpft, da Smetana das Motiv der zweiten Harfe anvertraut (die erste lässt als Antwort das geheimnisvolle, verdeckte Licht in wundervollen Arpeggien funkeln). Der Blick in eine »längst vergangene Zeit«. Ein zweites Mal beginnt »das Motiv« eine Terz tiefer, aber es ist (ebensowenig wie bei Beethoven) identisch mit dem ersten: einerseits wegen des größeren Sekundsprungs nach der Achtelpause und andererseits wegen des Wechsels in die parallele Molltonart, der Grundtonart von Beethovens 5. Sinfonie. Smetana, ein Meister im Erfinden plastisch sprechender Themen, hat hier ein Material entwickelt, dessen enormem Potenzial an Lichtwirkungen der Hörer gleich zu Beginn für sich selbst wenigstens einen blassen Schimmer abgewinnen kann, ohne vielleicht zu ahnen, dass das Motiv der Lebensborn des ganzen Zyklusses sein wird. Dagegen wissen weder Beethovens »Goldammer«, noch sein »Kuckuck«, in welchem Tongeschlecht sie singen: Klarinetten, Violinen, Celli und Bässe donnern ein »hohles« Ostinato und lassen den Hörer im Unklaren darüber, ob ihn nun ein filigranes Kunstwerk oder ein stilisiertes Straßengegröle erwartet. Natürlich zeigt ein einzelnes Motiv noch genau so wenig vom ganzen Werk wie die Keimpflanze vom ganzen Gewächs. In beiden Fällen ist entscheidend, »wie es weitergeht«. Und doch glänzt in Smetanas Erfindung unverwechselbar »Tschechisches«, das sich möglicherweise kaum an einem Detail fixieren lässt: das für slawische Musik so bezeichnende Schwanken zwischen Dur und moll ist es sicherlich nicht allein. Ist es die aparte Änderung im Sekundsprung? Die tschechische Bahn hat für den Prager Hauptbahnhof die erste, helle Es-Dur-Version des Motivs gewählt. Es ist immer wieder dieser »seltsame« kleine Sekundsprung, bei dem die eigenartige »schmerzlich schöne« Klangwelt Smetanas für einen kurzen Moment ganz besonders aufleuchtet. Eine schönere Begrüßung konnte sich České Dráhy jedenfalls nicht ausdenken, obwohl zur Zeit Smetanas wohl niemand auf die Idee gekommen wäre, das edle Motiv für einen Bahnhof zu verwenden. Allerdings wird sich wohl die Deutsche Bahn davor hüten, mit Beethovens Motiv, das nun wirklich in jedem Bahnhof der Welt verstanden wird, dergleichen zu verfahren.

Das »Programm« des Werkes:
Das Wort »Programm« ist ein wenig schief gelagert, denn die Musik beschreibt nichts, sondern erfasst Stimmungen, die durch sagenhafte oder historische Begebenheiten beim Betrachten des Vyšehrad vor dem geistigen Auge des Gastes aufleuchten und wieder verblassen:

  1. Zu Beginn hören wir die Harfenklänge des sagenhaften Sängers Lumir, der dem Hörer von Vyšehrad erzählt. Gleich in den ersten Takten erklingt jenes markante Vyšehrad-Motiv, das wie eine idee fixe alle sechs Dichtungen miteinander verbindet. Dieser erste Teil der Dichtung klingt wirklich historisch, wie aus grauer Vorzeit. Die Harfenklänge Lumirs verbinden sich mit den dumpfen Klängen der Waffen. Am Ende der Exposition (in der Tat ist Vyšehrad ein Sonatensatz!), aber erst am Ende, erstrahlt die Burg förmlich vor den Augen des Hörers in den hellsten Farben. Zu welchem Leben hat sich das »graue« Vyšehrad-Motiv gewandelt. Die »Schlussgruppe« ist jenes fliessende Motiv der Moldau, dem wir in Libuses grosser Arie aus dem ersten Akt der Oper begegnen, und das in der gleichen Weise die Dichtung »Vltava« beendet.

  2. Der Mittelteil erinnert an die bewegte Geschichte der Burg. Das Vyšehrad-Motiv wird nach allen Regeln der Kunst zergliedert und aus ihm entsteht ein Feuerwerk neuer Motive. Wie viele Empfindungen sind in diesem kurzen Abschnitt eingefangen. Mal erinnert eine Passage an einen Kampf, die nächste strahlt grosse Ruhe aus, die dritte gleicht einem Triumph. Die »Durchführung« endet mit einem Festmarsch, der - wie könnte es anders sein - ebenfalls aus dem Vyšehrad-Motiv entstanden ist. Dann, nach einem peitschenden Beckenschlag, kracht die Burg förmlich vor den Augen des Hörers zusammen. Smetana benutzt dabei eine absteigende Folge von Akkorden, die sich keiner Tonart zuordnen lassen. Historisch ist Vyšehrad durch die Hussitenkriege zerstört worden. Mir ist nicht klar (und Smetana hat sich darüber nicht geäussert), ob der Festmarsch an irgendeine wichtige Bedeutung gebunden ist. Ein Festmarsch der »Sieger«. Der Taboriten? Vielleicht. Es könnte natürlich einmal mehr ein Ausdruck der Freiheit durch die Entstehung der ersten Republik gemeint sein. Aber das ist nur eine Vermutung.

  3. Wieder erklingen die »grauen« Harfenakkorde von Lumir, wie schon zu Beginn der Exposition. Am Ende der Reprise erstrahlt Vyšehrad noch einmal in voller Pracht. Aber es ist nur noch eine Erinnerung, und die Musik zeigt keineswegs mehr die hellen Farben wie am Ende des 1. Teils. Die Erinnerung verblasst. Und dann hört der Betrachter - ganz leise - wieder das Fliessen der Moldau. Und genauso leise hört er wieder die Harfe Lumirs, die leise verklingt und allmählich verblasst. Noch ein letztes Mal, wie aus einer fernen Welt, erklingt das Vyšehrad-Motiv.

Was für ein packendes Stück! Ähnlich wie in Dalibor hat Smetana hier aus einer einzigen motivischen Keimzelle das ganze Werk gebaut. Bisweilen habe ich gelesen, dass ihm in der Nacht seiner Ertaubung das Vyšehrad-Motiv eingefallen sei. Sehr wahrscheinlich handelt es sich um eine Legende, denn Smetana begann schon einen Monat früher mit der Konzeption. Die tatsächlichen ersten Ideen reichen ohnehin viel weiter zurück



Heiko Schroeder 2012-09-02