Meine kleine Anthologie tschechischer Musik
Bohuslav Martinů (1890 - 1959)

Heiko Schröder


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Vorläufiger Text! Zur Zeit finden Arbeiten in der Abteilung »Smetana« statt.

Martinů ist wohl die fesselndste Erscheinung in der Geschichte der tschechischen Musik, mit der sich die Moderne ihre Bahn bricht. Aber von diversen ''Morgenröten'' konnte dieser ungemein fruchtbare Tonsetzer ein Lied singen: Nachdem ''in Europa die Lichter ausgegangen waren'' reifte er als Einziger unter der Großen jenseits der Grenzen seines Landes. Während seiner ''wilden Pariser Jahre'' versuchte er der Morgensonne, die Arnold Schönbergs Schule über der abendländischen Musik aufgehen ließ, einige Leuchtkraft abzugewinnen, kam aber sehr bald zu der Erkenntnis, dass es nicht das Ziel eines Tonsetzers sein könne, sein Publikum zu nerven. Da versank Europa abermals in Nacht, und der Geächtete floh Hals über Kopf in die Vereinigten Staaten, bevor ihn die Schatten erreichen konnten, die sich im gespenstischen Glanz germanischer Fackeln bildeten. Die Polnı mše (Feldmesse) für die Soldaten seiner Heimat hatte er in fieberhafter Eile noch fertigstellen können, nun stand der Schöpfer der Veselohra na mostě (Komödie auf der Brücke) und der surrealistischen Traumoper Snář (Julietta oder der Traumschlüssel) vor einer ungewissen Zukunft. Doch sollte er sich bald zu einem gefeierten Sinfoniker wandeln, dessen Památnık Lidice nicht nur den Überlebenden des grauenhaften Massakers die Zuversicht gab, und sicherlich auch heute noch gibt, dass die wahre Natur des Menschen auch die entsetzlichsten Entgleisungen dieser Spezies in den Griff bekommt. Als nach seiner meisterhaften Sinfonie Nr. 3, dem größeren Schwesterwerk des ''Denkmals für Lidice'', seine ''Vierte'' als Jubelschrei um die Welt zieht, und in seiner Heimat eine Begeisterung auslöst, als handle es sich um eine neue Sinfonie von Antonın Dvořák, scheint Martinůs Glück, eindlich wieder in seine Heimat zurückkehren zu dürfen, kurz bevorzustehen. Doch es erhebt sich eine knallrote Sonne über Prag, die den letzten Hoffnungsschimmer am Firmament überstrahlt, so als sollte Martinůs geliebtes Polička abermals brennen: Martinů wird seine Heimat nie wiedersehen.

Für sein Heimweh kann der Raum der Harmonien nicht groß genug sein: In Italien entsteht ein Zyklus von vier Kammerkantaten auf Gedichte seines Landsmanns Miloslav Bureš, der für Jeden, der sich den Tschechischen Landen und seinen Menschen eng verbunden fühlt, einen ähnlichen Stellenwert wie Smetana ''Má vlast'' haben dürfte: das frühlingshafte, ätherische Maifest der Brünnlein, die wundervoll herbstliche Legende aus dem Rauch des Kartoffelkrautes, das Kompositionswunder der sommerlichen Löwenzahnromanze, die von einem leichten, melancholischen Schleier durchzogen ist, sowie die winterliche Kantate des Mikeš vom Berge. Am Ende dieses großen Lebens, das in dem stillen Liestal in der Schweiz zu Ende geht, schenkt er der Welt drei weitere Schöpfungen, die seine umwerfende Wandlungsfähigkeit zeigen (mit den Worten Kurt Pahlens): das auf einen babylonischen Text basierende Gilgameš-Epos, die feurige, italienische Oper Mirandolina und - als exponierteste Leistung für das Musiktheater des 20. Jahrhunderts - die Griechische Passion, von der zwei Fassungen existieren. Martinů, dessen riesiges Œvre noch am Ende des 20. Jahrhunderts kaum zu überschauen war, und so manches Werk wegen der Kriegswirren nur als Manuskript vorlag, gehört zu denjenigen Komponisten, die sich dem kommerziellen Klassik-Nichtklassig Unsinn völlig entziehen und auf einem eigenen Weg so manche jungen Ohren erobern können. Er hat dafür auch sehr viel getan.

Špalıček
bezeichnete er zum Beispiel als Ballett, aber es handelt sich um eine Sammlung verschiedener Spiele und Märchen, die von dem Tanz, von den Chören und Solisten getragen werden, wobei Kindern eine ganz besondere Bedeutung zugeteilt ist. Allein der 2. Akt, das Märchen vom Schuster und dem Tod zeigt als geschlossenes Stück einen sprühenden Witz, der - obwohl in einer ganz anderen Zeit entstanden - an Bedřich Smetana erinnert. Martinů schätzte Smetana und Dvořák hoch, und es wäre ihm nicht im Traum eingefallen, von einem ''Mainstream des 19. Jahrhunderts'' zu faseln. Die ''Verkaufte Braut'' war für ihn eine Sinfonie der Freude, und in Amerika sagte er einst sinngemäß, dass die Welt seine Heimat niemals beachten würde, gäbe es nicht ein lebendiges Musikleben, dessen Entstehung Smetana und Dvořák zu verdanken sei.

Radio Opern:
Mit dem Radio entstand ein neuer Operntypus, der Martinů besonders reizte: Dem Zuhörer wurde keine Szene geboten, sondern er musste sie sich vorstellen, wodurch er zum Mitschöpfer des Werkes werden konnte. Vom Komponisten setzt dies voraus, dass er eine Radio-Oper in erster Linie als musikalisches Kunstwerk auffasst. Damit begegnete Martinů Smetana abermals, dessen Opern Hubička und Tajemstvı ebenfalls keiner Szene bedürfen. Die Stimme des Waldes (Hlas lesa) und die schon genannte sprühende Komödie auf der Brücke machten den Komponisten weltbekannt. Der Grundgedanke dieses glückhaften Werkes (mit einer Spieldauer von nur einer halben Stunde) ist allerdings keineswegs lustig: Das schönste Mädchen eines Dorfes, namens Popelka (Aschenbrödel), kommt in Kriegszeiten an eine Brücke, die zwei einander verfeindete Seiten verbindet. Sie aber hat einen Geleitbrief, und so lässt sie der Wachsoldat ihres Landes passieren, während ihr der feindliche Soldat auf der anderen Seite der Brücke den Weg versperrt. Sie muss wieder umkehren. Doch nun lässt sie auch nicht mehr der eigene Soldat passieren, denn der Geleitbrief galt nur für den Hinweg - welche düsteren Erinnerungen an Johannes Hus kommen uns dabei in den Sinn? Allmählich versammelt sich eine kleine Gruppe auf der Brücke, die sozusagen stellvertretend für das ganze Dorf gelten kann: der Hopfenbauer Bedroň, dem es gar nicht so unrecht ist, mit Popelka das gleiche Schicksal zu teilen, der Fischer Sykoš, Popelkas eifersüchtiger Freund, sowie die nicht weniger eifersüchtige Eva, die Ehefrau Bedroňs, und der Dorfschullehrer, die alle auf eine ähnlich fadenscheinige Argumentation der Soldaten hereinfallen und auf der Brücke gefangen sind. Während die Schlacht tobt, werden auf der Brücke diverse Eifersüchteleien ausdiskutiert. Nur der Lehrer beißt sich an einem Rätsel die Zähne aus, das ihm ein Soldat einst gestellt hat: Wie kann ein Hirsch entkommen, der sich auf einer Wiese befindet, die ganz von einer Mauer umschlossen ist? Der Soldat sagte ihm einst, dass er erst dann den Sieg ausrufen solle, wenn er das Rätsel gelöst habe. Kaum dass er ihm einen Hinweis geben konnte, ging der Waffenstillstand zu Ende und der Soldat musste zu seinen Waffen greifen. Plötzlich ertönt der Salvendonner eines fürchterlichen Angriffs - und dann folgt: eine betörende Stille. ''Sieg, Sieg'' tönt es aus der Ferne und kommt immer näher: ''Sieg, Sieg!'' Zackige Marschmusik. Ein Soldat sieht die zusammengekauerten Menschen auf der Brücke und fragt nach ihrem Befinden als ihm der Lehrer sein Rätsel anvertraut. ''Wie der Hirsch entkommt?'', versicherte sich der Soldat, ungläubig, die Frage richtig verstanden zu haben. ''Er entkommt gar nicht.'' Der Lehrer schlägt sich vor den Kopf wegen seiner Schusseligkeit und stimmt nun laut in das Siegesgeschrei mit ein. 1937 wirft der Krieg zwar schon seine Schatten voraus, und die Zeit war daher keineswegs günstig, um eine solche lustige Oper aufzuführen. Doch gibt es eine edlere Form, dem Krieg seinen Nährboden zu entziehen, wie es Martinů erreichte?

Julietta:
Ein Jahr später schenkt Martinů der Welt seine surrealistische Traumoper auf einen Text von Georges Neveux; der Originaltitel des Werkes heißt Snář - Julietta oder der Traumschlüssel. Damals stand das möchtegermanische Grauen bereits vor den Toren Prags. Ein Mann kommt in eine Stadt, deren Menschen das Gedächtnis verloren haben. Der eigentliche Beweggrund, sich in dieser Stadt aufzuhalten aber ist das Mädchen Julietta, dessen Stimme er einst hörte, und das er nun sucht. Sie hat davon zwar keine Ahnung, aber sie hat auch schon auf ihn gewartet, sofern ''Sie'' es überhaupt ist; denn heißen hier nicht alle Mädchen Julietta? Nichts wird konkret. Für diese Ausnahmeoper erfand Martinů ein paar neue Harmonien, die heute als Julietta-Akkorde bekannt sind. Ein im wahren Sinne des Wortes entwaffnendes Werk, eine große Oper des 20. Jahrhunderts, die immer noch viel zu selten den Weg in den Westen findet.

Die Hry o Marije (Marienspiele)
sind Martinůs erster großer Beitrag zum Musiktheater. Die vier einzelnen Teile sind eigene Stücke, wobei sich eine Art Prolog mit einer echten Oper abwechselt. Das Werk beginnt mit der biblischen Legende von den klugen und törichten Jungfrauen, das von einer leuchtenden Psalmodie des Orchesters getragen wird. Bereits in diesem kaum 20 Minuten langen Stück erreicht Martinů Lichtwirkungen von einzigartiger Bannkraft. Es folgt die dramatische Geschichte der Marijken aus Nimwegen, die sich auf der Rückkehr aus der Stadt in einem Wald verirrt, dort auf ''Teufel komm raus'' den Weg in die Glitzerwelt der Stadt zurückfindet, und bald schief im Wind steht. Als sie sich gegen den Willen des Teufels das heilige Spiel des Maškaron anschauen will, kommt es zur Katastrophe. Die ungemein plastische Tonsprache Martinůs zaubert einen Kosmos verschiedenster Stimmungen, dem die wilde Teufelstanzszene und das kuriose ''Udeř! Udeř!'' bei aller Tragik groteske Züge verleiht. Die dramatische Wirkung des Ganzen verstärkt sich auch noch durch den Einsatz eines Erzählers (Sprechstimme), der sich bald dem Publikum zuwendet und bald Marijken warnt, ohne in das Geschehen eingreifen zu können. Das dritte, pastorale Stück ist ein mährisches Spiel mit dem Titel Die Geburt des Herrn, das dreimal von Neuem beginnt, und bei dem Martinů erwartet, dass sich der Hörer alles selbst zusammensetzt und so zum Mitschöpfer der Szene wird. Dieses zauberhafte Spiel, an dem auch Kinder beteiligt sind, steht in besonders enger Nachbarschaft zu Špalıček. Der eigentliche Höhepunkt der Marienspiele ist aber das letzte Stück Schwester Pascalina auf einen Text von Julius Zeyer. Durch ein Missverständnis endet die Ordensschwester auf dem Scheiterhaufen, der Chor lässt die Flammen emporzischen, doch die ''törichte Jungfrau'' wird aber am Ende vom Himmel rehabilitiert. Damit schließt sich der Kreis. Die Darbietung dieses großartigen Werkes am Prager Nationaltheater dürfte Geschichte geschrieben haben.

Die Griechische Passion
ist die Vertonung eines eigenen englischsprachigen(!) Librettos, das auf dem Roman ''Der wiedergekreuzigte Christus'' von Nikos Kazantzakis (''Alexis Sorbas'') basiert. Es geht um die Vorbereitungen zu einem Passionsspiel in einem griechischen Dorf, aus dem bittere Realität wird. Wer das Werk nicht kennt, darf demnach weder ein Oratorium, noch ein christliches Lehrstück erwarten, sondern vielmehr die tiefe Einsicht in die Schattenregionen des menschlichen Daseins, verbunden mit einer harschen Kritik an vordergründiger religiöser Verlogenheit. Lange Zeit war nur die zweite, sehr melodiöse und gesangliche Züricher Fassung bekannt, übrigens das letzte vollendete Werk des Meisters, der sich auf der Höhe seiner gestalterischen Kraft befindet. Aleš Březina ist es zu verdanken, dass die Welt nun auch die erste, die sehr viel dramatischere so genannte Londoner Fassung, kennt, die 1999 in Bregenz uraufgeführt wurde. Natürlich weisen die Partituren Ähnlichkeiten mit einander auf, aber im Grunde handelt es sich um eine ganz andere Oper. Aleš Březina musste sich die Einzelteile der ersten Fassung sich zusammensuchen, denn als das Entscheidungsgremium in London die Annahme der Oper ablehnte, und sich Rafael Kubelik, der sie nach Martinůs Wunsch dirigieren sollte, vergeblich für das Werk eingesetzt hatte, zerlegte Martinů die Partitur und verteilte die Bruchstücke im Freundeskreis. Beide Fassungen der ''Griechischen Passion'' sind eine derart exponierte Leistung Martinůs, dass sie zum selbstverständlichen Repertoire westlicher Opernhäuser gehören sollten.

Sinfonische Fantasien (6. Sinfonie)
Zum selbstverständlichen Repertoire der Tschechischen Philharmonie gehören vor allem die Sinfonischen Fantasien, die später 6. Sinfonie genannt wurden (eine unglückliche Bezeichnung?). Bei der ersten Begegnung mit diesem Werk könnte der Hörer vermuten, es handle sich um Fieberphantasien: aus dem flirrenden Schleier der Musik, die an die 4. Sinfonie erinnern, treten strahlende lyrische Motive, ja ganze Themen hervor, die einen klaren Aufbau des Werkes erkennen lassen. Oder doch nicht? Immer wieder verblassen ihre Farben im flirrenden Schleier, um abermals wie Phönix neu aufzuleuchten. Ein ungewöhnliches, in jeder Bedeutung des Wortes unglaubliches Werk, das für jeden Musikliebhaber unbedingt zum ''Kanon'' gehören sollte.

Das instrumentale Schaffen
dieses ungemein fruchtbaren Tonsetzers lässt sich ansonsten kaum überblicken. Als hoffnungsvolles Talent seines Städtchens Polička begann er seine Laufbahn am Prager Konservatorium, wo auch Josef Suk eine kurze Zeit sein Lehrer wurde. Doch 1910 wurde Martinů wegen ''unverbesserlicher Nachlässigkeit'' wieder vor die Tür gesetzt, was bei ihm keineswegs Resignation auslöste. Im Gegenteil! Erst jetzt gab es Anlass genug, diesem verstaubten Akademikerzirkel zu zeigen was eine Harke ist. Er stürzte sich in die Arbeit und von nun ab verging (angeblich) kein Tag seines Lebens ohne Komponieren. Sein Konzert für Violine und Klavier aus dieser Zeit ist das einnehmende (und äußerst tonale) Werk einer aufatmenden Seele, das zwar noch nicht meisterlich gestaltet ist (und wohl eher als Lehrsonate, denn als ''Konzert'' gelten muss), aber höchst einprägsames Material von bezwingender Natürlichkeit und Frische verarbeitet. Die pianistischen Ansprüche sind nicht allzu groß, Ähnliches gilt für die Violine, so dass sich dieses sehr sympathische Werk auch nicht professionelle Musiker erschließen können. Bei derart einprägsamen Melodien ist die Gefahr allerdings groß, dass Sie einem auch nachts nicht aus dem Kopf gehen, und sie möglicherweise bald der eigene Hund auf der Straße pfeift.

Halbzeit:
Eingeprägt hat sich dem Prager Publikum auch ein erstes bedeutsames Orchesterwerk des ''Zukunftsmusikers'', obgleich in einem ganz anderen Sinn. Inzwischen war Martinů wieder am Konservatorium aufgenommen worden und lernte bei Josef Suk, der - bezeichnend für diesen großen Menschen - ihm stets die Treue hielt, wie steif die Brise auch sein mochte, die dem jungen Komponisten an diesem hohen Hause auch ins Gesicht wehte. Suk konnte Menschliches und Künstlerisches klar trennen; mit dem Komponisten Martinů war er keineswegs einverstanden. Nun brachte der Avantgardist Martinů ein für konsonanzenlüsterne Ohren höchst seltsames Gewürge zur Aufführung, das zwar als sinfonische Skizze einer Halbzeitpause beim Fussball gedacht war, aber bei dem besonders erlauchten (oder vielleicht erleuchteten) Teil des Publikums wohl die Befürchtung nahelegte, es gehe allenfalls um ein Gelage am Rand des Spielfelds, und der daran beteiligte Komponist sei bei der Abfassung des Werkes bereits geistig weggetreten. Jedenfalls soll die Prager Aufführung zu einem Eklat geführt haben; was nicht heißt, dass sich jedes Ohr der allgemeinen Meinung angeschlossen hätte. Aber von diesem Ereignis an galt Martinů als Komponist der ''Moderne'', als ''Neutönler''.

An verrückten Sachen
hatte der ''wilde'' Martinů noch des Öfteren seine Freude: während Smetana einst in seinen sinfonischen Dichtungen die Empfindungen bei der Beschäftigung mit einer Sage, einer geschichtlichen Begebenheit oder der Natur veredelte, und Dvořák vier Märchen (und zwar sehr blutrünstige) aus Karel Jaromır Erbens sehr populärer Balladensammlung ''Kytice'' (Blumenstrauß) der sinfonischen Nachdichtung für würdig befand, suchte sich der Modernist aus Polička als Gegenstand seiner Inspiration einen Düsenjäger aus. Zudem entfaltet Martinů in den zwanziger Jahren eine Vorliebe für den Jazz. Eine herrliche Karikatur aus dem Jahr 1942 zeigt Jaroslav Ježek, den ''Vater des tschechischen Jazz'' am Flügel, auf einer Wolke schwebend, während seine Jünger mit offenen Weinkelchen - und zwar Martinů ganz besonders nah am Flügel - auf eine Spende ihres Messias warten.

Die Frage nach dem ''besten'' Einstieg:
An Konzertmusik gibt es von Martinů so viel wie von kaum einem anderen Komponisten. Allerdings war es für ihn selbstverständlich, das Klavier nicht als reines Soloinstrument zu betrachten, sondern als Bestandteil des Orchesters, was als sehr bedeutende Konstante trotz der enormen Wandlungsfähigkeit des Meisters zu einer Kunst mit hohem Wiedererkennungswert führt. Abgesehen von einigen Ausflügen in die Welt der Zwölftonmusik von Arnold Schönberg, die ihn schließlich abstieß (wie auch Leoš Janáček), blieb seine Kunst der Tonalität treu, wenn auch in einer sehr erweiterten Form, die harsche Dissonanzbildungen nicht ausschließt, und dem Hörer manchmal sehr lange Wartezeiten bis zu einer Art ''Auflösung'' abverlangt. Wer mit diesem Stil nicht vertraut ist, bei dem kann ein falscher Einstieg zum einschlägigen Schwur führen. Die epische 1. Sinfonie und das geniale Gilgamesch-Epos sind bei aller Größe nicht unbedingt als erster Einstieg zu empfehlen. Ganz anders sieht es mit der Polnı mše (Feldmesse) aus. Dieses ungemein sympathische, bewegende Werk für Bariton, Männerchor und kleinem Instrumentarium, zu dem - sehr apart - auch ein Harmonium gehört (auf einem Feld lässt sich kein großes Orchester auffahren), schrieb Martinů unmittelbar vor der Flucht aus Paris auf einen nicht liturgischen (!) Text. Jřı Mucha ließ ihm den Text bruchstückhaft auf Zetteln zukommen, ohne die Chance, das Ganze nachträglich arrangieren zu können: der fieberhaft arbeitende Komponist hatte die noch ''warmen'' Verse gleich am nächsten Tag in seine Schöpfung eingebunden. Und diesen Geist atmet auch der jahreszeitliche Kammerkantaten-Zyklus, den er in den Fünfziger Jahren auf die schönen Verse von Miloslav Bureš schrieb. Diese ''Bureš-Kantaten'' gehören zum Bezwingendsten, was auf tschechischem Boden entstanden ist.

Otvıranı studánek (Die Öffnung der Brunnen)
für kleines Instrumentarium, Frauenchor, Bariton und einem Erzähler (Sprechstimme) lässt den Hörer an einem schönen Brauch teilhaben, wie es im Mai auf den Dörfern üblich war. Das Ritual durfte nur von jungen Mädchen durchgeführt werden, von denen eine als ''Königin'' auserkoren war (vgl. Leoš Janáčeks Liedersammlung Královničky (''Kleine Königinnen'')). Martinů zaubert hier ein filigranes Gewebe aus Wechselgesängen mit dem Brünnlein, wobei die Mädchen auch in die Rolle der Frühjahrsblumen (Windröschen) schlüpfen. Die Stimme des Erzählers, der sich zuerst ganz dem Publikum zuwendet, taucht am Höhepunkt des Rituals in die Musik ein und verleiht dem Frühlingswerk seine eigene Note. Der schöne Gesang des Baritons ''Ich bin dem Herbst begegnet'' schafft am Ende des Werkes einen zweiten Höhepunkt. Sollten wir ernsthaft daran glauben, dass eine andere Zivilisation im Universum davon erfährt, was wir Menschen zu leisten im Stande sind, so gehört das, was Miloslav Bureš und Martinů hier geschaffen haben, zu den allerersten Werken, die sie kennenlernen sollte. Möglicherweise ist dieses ''Maifest der Brünnlein'', wie es im Deutschen oft genannt wird, neben dem Orchesterwerk Selanka (Idylle) aus Erbens schon erwähnter Balladensammlung Kytice, zu der auch Martinů ein wundervolles Werk beisteuerte, für viele Tschechen der Inbegriff von Martinůs Schaffen.

Die Legenda z Dýmu Bramborové nati (Legende aus dem Rauch des Kartoffelkrautes)
ist von ganz anderer Art. Das Instrumentarium ist größer, wobei besonders die Flöten und das Harmonium (vgl. Feldmesse) den Klang besonders prägen. Wie könnten auch Flöten bei einem Fest am Kartoffelfeuer fehlen, dessen duftender Rauch die ganze Partitur durchdringt? Die Mutter Gottes hat keine Lust mehr, in der düsteren, kalten Kirche zu stehen. Sie steigt herab vom Sockel und begibt sich unter das Volk. Als bekannt wird, dass die Kirche leer steht, beginnt im Dorf eine große Suchaktion. Jeder junge Bursche meint sie irgendwo gesehen zu haben. Doch sie wird nicht gefunden. Nicht? Lebt sie denn nicht im Antlitz jeder Mutter fort? Mit dieser Erkenntnis schließt das hinreißende Opus. Obgleich die Jahreszeit natürlich der Herbst ist, gehört diese Kantate in dem Zyklus nach meinem Empfinden an die zweite Stelle. Die Musik ist wesentlich ''bodenständiger'' als das aquarellierende ''Maifest'' der Brünnlein, und meiner Ansicht nach auch musikalisch reichhaltiger. Während die Frühlingskantate durch den Erzähler in einzelne Lieder zergliedert ist, gleich den funkelnden Tropfen auf einer Frühlingswiese, wirkt ihr herbstliches Gegenstück ohne Erzähler geschlossener, und die wundervoll mit dem gemischten Chor kontrastierenden Solostimmen lassen eine noch größere Palette an satteren Farben und Rhythmen zu. Der schöne Schlussgesang des vollen Chores ''Mutter Gottes, Schwester der Ebereschen'' gehört in seiner entwaffnenden Schlichtheit zu den beglückendsten Eingebungen Martinůs.

Die Romance z pampelišek (Löwenzahnromanze)
ist das Sommerstück des Zyklusses, und als reiner a capella Gesang für Sopran Solo und gemischten Chor noch geschlossener als die Legende. Sie ist das Klagelied eines Mädchens, das vergebens mehrere Jahre auf seinen Geliebten gewartet hat, und sich nun dem Schicksal fügt. Das Werk halte ich für ein Kompositionswunder: Die Chorstimmen werden instrumental eingesetzt (ein Instrumentarium fehlt, wie gesagt) und die von einem melancholischen Schleier durchzogene Sommerlandschaft hat eine geradezu magische Wirkung, so dass ich bei aller Liebe zum ''Maifest der Brünnlein'' und zu der mir besonders nahestehenden ''Legende'' für den Höhepunkt des Zyklusses halte.

Mikeš vom Berge
hat es nach der ''Legende'' und der ''Löwenzahnromanze'' gewiss nicht leicht, mit seinem spätherbstlich, winterlichen Leuchten durchzudringen. Das Instrumentarium ist dasselbe wie das der Frühlingskantate, und so ist schon klanglich vorgezeichnet, dass sich der Kreis schließen wird. Wer aufmerksam hinhört wird sicherlich feststellen, dass diese liebenswerte Winterkantate die kraftvollste von allen ist. Lautmalerisch geradezu das Peitschenknallen, wenn Mikeš die Ziegen über die Berge führt. Am Schluss führt uns die Musik auf eine schöne, einprägsame Melodie des Orchesters zurück, die in ''Otvıranı studánek'' den ''Herbstgesang'' des Baritons einleitet: ''Wir reichen uns den schweren Schlüssel von Hand zu Hand, den Schlüssel zu uns'rer Heimat.'' Diese letzten Zeilen aus ''Ich bin dem Herbst begegnet'', stehen auch auf Martinůs Grabstein. Knapp zwanzi Jahre nach seinem Tod durfte er endlich zurück in sein geliebtes Polička. Seine letzte Ruhestätte fand er auf dem lichten Friedhof am Rand des Ortskerns, auf dem auch Miloslav Bureš begraben ist.

Polička,
dieses ungemein sympathische, sehr gepflegte (!) Städtchen (Smetanas Geburtsort Litomyšl ist ganz in der Nähe) ist unbedingt eine Reise wert. Niemand erwarte ein Renaissanceschloss oder ein anderes Weltkulturerbe. Es ist die kleine Stadt am östlichen Rande Böhmens mit ihrem sehenswerten Markt, inmitten goldgelber Getreidefelder, die dem Menschen, der mit sich selbst und der Welt im Reinen ist, dazu bewegt, die Seele baumeln zu lassen. Wer Martinů liebt, für den führt natürlich kein Weg an Polička vorbei. Das Museum des Meisters gehört zu den sehenswertesten Gedenkstätten in der Tschechischen Republik und könnte mit dem Smetana Museum in Prag um Ränge streiten. Auch Jugendliche, auch Kinder, können hier die Zeit Martinůs regelrecht ''erleben''. Unter Anderem ist ein Klassenzimmer der damaligen Zeit aufgebaut und etliches mehr. Ich halte es für eines der besten Museen des ganzen Landes.

Martinůs Geburtszimmer
befindet sich übrigens in dem Glockenturm der St. Johannis-Kirche, und kann (und sollte vor allem) ebenfalls besichtigt werden. (93 Stufen, auch für kleinere Kinder möglich!) Hier lebte Martinů bis zu seinem 11. Lebensjahr. Sein Vater hatte die Aufgabe eines Feuerwächters angenommen. Polička brannte in der Vergangenheit mehrmals nieder, und so hatte Martinůs Vater die Aufgabe, vom Kirchturm aus jedes beobachtete Feuer sofort zu melden. Der kleine Martinů machte an diesem luftigen Ort seine ersten musikalischen Erfahrungen und er wird später sagen, dass das Leben auf dem Kirchturm seinen späteren Klangraum entscheidend gesprägt hat. Somit ist nicht erst in Rom, sondern bereits in Polička die Grundlage zu dem ''Maifest der Brünnlein'' entstanden, und wer je den kleinen Ort aufgesucht und in luftiger Höhe den Kirchtum umrundet hat, wird vielleicht die wahre Bedeutung des schönen Liedes verstehen, mit dem Martinů den Sopran den dritten Teil von Špalıček einleiten lässt.


Heiko Schroeder 2012-08-26